Literarische Kriegsdarstellungen im 19. Jahrhundert als Ästhetik der Leidenschaften: Victor Hugo, Heinrich von Kleist, Lew N. Tolstoj
Unsere Gefühle bei der Lektüre eines Buches sind nichts Natürliches. Sie werden konstruiert. Insbesondere bei Kriegsdarstellungen spielt die Manipulation der Empfindungen des Lesers durch bestimmte ‚Pathosszenen‘ eine zentrale Rolle. Für die emotionalen Effekte solcher Darstellungen ist zentral, ob sie Mitleid oder Hass nahelegen, indem sie dem Lesenden bestimmte Figuren als ‚Freunde‘ oder als ‚Feinde‘ erscheinen lassen, oder ob sie sogar sein geheimstes Begehren ansprechen, indem sie das Töten sexualisieren oder sakralisieren.
Den Wandlungen, die die literarisch vermittelten Empfindungen von Kriegsdarstellungen im Laufe des 19. Jahrhunderts vollzogen haben, wird der Vortrag Jan Süselbecks nachgehen. Im Mittelpunkt werden dabei Beschreibungen soldatischer Kampfhandlungen bei Victor Hugo, Lew N. Tolstoj und Heinrich von Kleist stehen: Hugos Schilderung der Schlacht von Waterloo im Roman Die Elenden − nach den Worten des Autors der "Dreh- und Angelpunkt des 19. Jahrhunderts" − kann in ihrer perspektivenreichen Darstellung als Meilenstein kriegskritischer Prosa bezeichnet werden. Auch in Tolstojs Roman Krieg und Frieden dankt die Figur des erhabenen Feldherren endgültig ab, weil die Kontingenz des komplexen Kampfgeschehens, das er selbstherrlich initiiert hat, nicht mehr zu durchschauen ist. Kleists Dramen hingegen sind Beispiele für eine lustvolle Imagination grausamer Kriege, die den Blick der Lesenden auf eine Schlacht im Inneren des Betrachters zurücklenken. Wie erfolgreich diese fatalen Strategien nach wie vor sind, kann man an den aktuellen Feldzügen und der Enthauptungspropaganda des IS im Nahen Osten studieren.
Jan Süselbeck lehrt als Privatdozent Literaturwissenschaft in Marburg und Siegen und ist seit 2005 Redaktionsleiter der Zeitschrift literaturkritik.de. Seit vielen Jahren setzt er sich mit Fragen und Methoden der kulturwissenschaftlichen Emotionsforschung auseinander. Im vergangenen Jahr erschien im Wallstein Verlag Göttingen sein Buch Im Angesicht der Grausamkeit. Emotionale Effekte literarischer und audiovisueller Kriegsdarstellungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert.
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